Zurzeit wird in den Medien das Thema «Hochsensibilität» vermehrt thematisiert. Je nach Quelle ist von 3 bis 20 Prozent betroffener Menschen mit dieser Persönlichkeitsdisposition die Rede. In meiner langjährigen Praxiserfahrung als Traumatherapeutin habe ich festgestellt, dass ein nicht geringer Anteil der vermeintlich Hochsensiblen an einer Hypervigilanz leiden. Solche Fehldiagnosen entstehen immer wieder, da beide Störungen ähnliche Symptome aufweisen. In meiner Praxis arbeite ich täglich mit Klienten mit erhöhter Wachsamkeit, der kleinere Teil davon ist zusätzlich hochsensibel.
Der Begriff «Hypervigilanz» stammt aus der Psychologie und bedeutet erhöhte Wachsamkeit/Aufmerksamkeit oder vegetative Übererregung. Man bringt ihr Auftreten mit frühen Traumatisierungen in Verbindung, wie körperlicher und physischer Gewalt oder Grenzüberschreitungen. Während des traumatischen Ereignisses fehlte dem Betroffenen der nötige Schutz, die Situation wurde von ihm als nicht sicher genug empfunden. In der Folge entstand, als Überlebensschutz, eine Überwachsamkeit. In der Gegenwart empfindet der Betroffene diese Hypervigilanz als störend. Sein Alltag gestaltet sich anspruchsvoll oder gar unmöglich.
In ständiger Alarmbereitschaft
Menschen mit einer erhöhten Wachsamkeit sind stets auf der Hut, um allfällige Gefahren zu erkennen. Sie scannen ihre Umgebung und ihr Gegenüber laufend ab. Sie leiden unter innerem Stress, denn ihr Nervensystem versucht fortwährend, bedrohliche Gerüche, Klänge, Stimmen und Stimmlagen zu detektieren. Diese allgegenwärtigen Bedrohungen nehmen Betroffene aufgrund ihrer traumatischen Erfahrungen wahr: Ein Mensch, ein Gesicht, ein Ausdruck, eine Körperhaltung oder eine Gefühlslage kann als bedrohlich empfunden werden. Die ständige Angst vor Gefahr und Problemen macht den Alltag für Betroffene zur riesigen Belastung und führt zu permanenter Anspannung. Und da ein an Übererregung leidender Mensch andere Menschen als Bedrohung wahrnimmt, ist es für ihn fast unmöglich, Beziehungen einzugehen.
Zu den weiteren Symptomen und Merkmalen der Hypervigilanz zählen Schlafstörungen, häufiges Aufwachen oder nächtliches Aufschrecken sowie innere Unruhe. Schreckhaftigkeit, zittern, schwitzen und Hyperventilation aufgrund von Stress im Nervensystem gehören ebenfalls zu dieser gesundheitlichen Störung. Überwachsame zeigen sich misstrauisch ihren Mitmenschen gegenüber, sie leiden unter erhöhtem Herzschlag und Erschöpfungszuständen. Wenn Betroffene bestimmte Situationen meiden oder sich aus allem heraushalten, um vorsorglich dem Stress zu entgehen, sprechen wir von einer sozialen Phobie. Diese kann zu Rückzug und Isolation führen.
Der therapeutische Weg führt über Beziehung und Vertrauen
Traumaarbeit ist oft ein langer Weg. Im Fall von Hypervigilanz dauert die Arbeit noch länger, denn es fehlt dem betreffenden Klienten das Grundvertrauen in seine Mitmenschen. Ein sich bedroht fühlender und aufgrund seiner Erfahrungen misstrauischer Mensch kann sich nur schwer auf eine Beziehung einlassen. Eine vertrauensvolle Beziehungsebene brauchen mein Klient und ich jedoch als Grundlage für eine erfolgversprechende Zusammenarbeit.
Meine wichtigste Aufgabe ist daher, meinem Gegenüber keine Anzeichen von Bedrohung und keine Gründe für Misstrauen zu geben. Weder mein Blickkontakt, meine Sprache, mein Ausdruck noch meine Körperhaltung dürfen invasiv auf meinen Gesprächspartner wirken. Ich fahre meine ganze Aufmerksamkeit weit zurück, damit ein Gefühl von einem sicheren Raum entstehen kann. Auf dieser Basis kann allmählich Vertrauen entstehen. Und irgendwann kommt der Tag, wo der Klient eine neue Erfahrung zulassen kann und sich auf mein Beziehungsangebot einlässt. Diese Phase des Beziehungsaufbaus kann bis zu einem halben Jahr dauern.
Wenn dieser Beziehungsboden einmal vorhanden ist, bedeutet das jedoch nicht, dass jegliches Misstrauen verschwunden ist. Auch nach mehreren Monaten der Zusammenarbeit treten immer wieder Misstrauensschübe zu Tage. Diese zeigen sich in Form von «Tests», bei denen die Klientin/der Klient mein Gesagtes auf Wahrheit und Widersprüche überprüft. Von meiner Seite her sind daher viel Aufmerksamkeit und Achtsamkeit notwendig.
Mit Konfrontation zurück ins Vertrauen
Den nächsten Schritt initiiert die Klientin. Wenn sie die Beziehung als stabil und die Bindungsqualität als sicher empfindet, führt sie uns zurück zu ihrem traumatischen Ereignis. Dies kann beispielsweise eine Vernachlässigung in früher Kindheit sein. Von dort aus gehen wir behutsam in die Trauma-Konfrontation hinein. Ich arbeite mit verschiedenen Techniken. Es gibt ein hin und her Pendeln von Ressource und Trauma-Konfrontation. Dieses Vorgehen verhindert eine erneute Überforderung. Auf dieser Basis kann sich die Betroffene nun dem Schwierigen zuwenden. Wir tauchen so lange in Schwieriges ein und zurück zur Ressource, bis der Körper die Emotionen des ursprünglichen Ereignisses verarbeitet und metabolisiert hat.
Unmittelbar nach dem erfolgreichen Setting erlebt die Klientin einen verminderten Stresspegel. Eine neue Leichtigkeit hat Einzug in ihrem Körper gehalten. Dazu fällt mir das Beispiel ein von einem Menschen, der ängstlich geduckt den Hausmauern entlang schleicht. Irgendwann wird es ihm/ihr möglich, aufgerichtet und voller Selbstvertrauen die Strasse entlangzugehen. Bis dorthin kann es ein langer, ein ganz langer Weg sein.
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