Scham

Die Scham gehört zu unseren angeborenen Empfindungen. Sie zeigt an, dass wir Menschen mit Gefühl sind. Schamgefühle lassen uns vorsichtig agieren, damit wir nicht verletzt oder blossgestellt werden oder weniger Fehler machen. Die gesunde Scham ist die seelische Grundlage für Demut, sie zeigt uns die Grenzen unserer Endlichkeit auf. Dank ihr spüren wir, dass wir als Menschen nicht allmächtig sind. Jeder von uns braucht diese Grenzen als notwendige Struktur, um sich sicher in dieser Welt zu bewegen. Wir haben eine bessere Orientierung, wenn wir unsere Grenzen kennen und finden Sicherheit in dieser Struktur, die unserem Leben eine Abgrenzung und Form bietet.

Die ersten drei Lebensjahre prägen

Die Entwicklung der Scham fängt im ersten Lebensjahr an, wenn ein Baby völlig abhängig ist. Im 1. Stadium der psychosozialen Entwicklung geht es um Urvertrauen vs. Urmisstrauen. In dieser Phase wird der Grundstein für die menschliche Bindungs- und Beziehungsfähigkeit gelegt. Die Bedürfniserfüllung wird gestärkt durch Nähe und Berührung. Kommunikative Bestätigungen wie «So wie du bist, bist du richtig» und Körperkontakte geben dem Kleinkind Geborgenheit und Sicherheit. So entsteht Urvertrauen. In diesem Zeitraum entwickelt sich auch das Selbstwertgefühl und das «Ich». Davor kann das Menschlein «Ich» und «Du» nicht trennen, es empfindet sich als «Wir» und ist eins mit seiner Umwelt.

Mit etwa 15 Monaten lernt das Kind, sein Gleichgewicht zu halten. Es verzeichnet Erfolgserlebnisse beim Laufen lernen, Festhalten und Loslassen. Das Kind erlebt jedoch auch Frust, weil es immer wieder hinfällt. Für eine hohe Frustrationstoleranz braucht das Kind eine sichere Bindung und Urvertrauen.

Im Alter von zwei bis drei Jahren entwickelt das Kind seine Autonomie. In diesem 2. Stadium der psychosozialen Entwicklung geht es um Scham und Zweifel. Vertrauen die Eltern ihrem Kind und lassen sie es seine Umwelt erforschen? Die Erfahrungen in diesen Jahren prägen einen Menschen und entscheiden über sein zukünftiges Verhalten im Leben.

Die erste Bezugsperson ist folglich entscheidend für die Vertrauensentwicklung. Je besser ein Säugling gebunden ist, desto mehr Vertrauen entwickelt er in seine Mitmenschen. Wenn das Urvertrauen geschaffen ist, kann der Mensch eine gesunde Scham entwickeln. Und je grösser das Urvertrauen ist, desto ausgeprägter die Entdeckerfreude.

Scham: gesund oder toxisch?

Die Art und Weise, wie ich Gefühle, Bedürfnisse und instinkthafte Triebe erlebe sind entscheidende Faktoren für die Umwandlung von gesunder Scham in toxische Scham. Wenn ich mein gesundes kindliches Bedürfnis äussere und dafür verurteilt werde, erzeugt dies toxische Scham. Dann beginne ich mich selbst zu verurteilen und schlecht zu machen. Wenn ich mich an diese giftige Scham binde, schäme ich mich, sobald ich ein Gefühl, Bedürfnis oder einen instinkthaften Trieb empfinde.

Ob wir Scham als gesund oder toxisch wahrnehmen, hängt von der Erziehungsform ab. Wie stark darf sich das Kind ausleben? Wie oft wird es abgestellt und verurteilt? «Ich habe es dir schon hundertmal gesagt!» «Wieso passt du nicht besser auf?» «Dich sollte man auf den Mond schiessen!» Solche Anschuldigungen zerstören den Selbstwert eines Menschen.

Wenn ein Kind anfängt, die Welt zu entdecken, sollte es von seinen Eltern ermutigt werden, sich sicher und akzeptiert fühlen. Eine gesunde Scham kann sich entwickeln, wenn das Kind Wutanfälle haben darf, ohne erniedrigt zu werden. Diese gesunde Entwicklung wird jedoch oftmals in der «Trotzphase» abgewürgt, indem das Kind klein gemacht, verurteilt oder beschimpft wird.

In dieser frühen Entwicklungsphase sind Kinder oft schüchtern gegenüber Fremden. Sie empfinden es als Grenzüberschreitung, wenn sie beispielsweise jemandem die Hand geben sollen. Sie spüren Beschämung und versuchen durch Wutanfälle, ihre Grenzen aufzuzeigen und zu verteidigen. Sie signalisieren «Nein» und «Stopp».

Auch bei Erwachsenen ist die Scham aus Verlegenheit bekannt. Jemand errötet, wenn er/sie sich blossgestellt fühlt. Die Scham aus Schüchternheit zeigt uns unsere natürlichen Grenzen. Unser Grundbedürfnis nach Gemeinschaft und das Vertrauen in unsere Mitmenschen ermöglichen uns, die Welt in ihren Facetten zu entdecken.

Auch zum Entwickeln von Kreativität und Lernen braucht es eine gesunde Scham. Wenn Kinder in absoluter Sicherheit und mit dem Gefühl von Rechthaben aufwachsen, führt dies dazu, dass sie aufhören zu suchen und zu lernen.

Von einer giftigen Scham spricht man, wenn jemand mit sich selbst in Konflikt steht. Ein solcher Mensch fühlt sich minderwertig, fehlerhaft, wertlos. Er hat das Gefühl, ein Versager zu sein und nicht zu genügen. Er sieht sich als hoffnungsloser Fall und als schlechter Mensch. In seinem Leben herrschen Selbstverurteilung, Selbstkritik und Selbstzerstörung. Ein solcher Mensch hat sich mit seiner Scham identifiziert, sie ist Teil seiner Identität geworden.

Die Scham enthält auch Aspekte von Selbstentfremdung und Isolation. Wenn ich Anteile von mir als fremd empfinde und ich mir das Ärgern verbiete, erzeugt dies eine innere Abspaltung. Diese Dissoziation ist ein Bewältigungsmechanismus, der mich mit meinen nicht integrierten Erlebnissen umgehen lässt.

Es führen viele Wege aus der toxischen Scham

Wie schafft man es aus der toxischen Scham heraus? In diesem Abschnitt habe ich einige Möglichkeiten aufgeführt.

  • Externalisierung: ich verlagere meine innere Einstellungen nach aussen. Ich suche soziale Kontakte und öffne mich gegenüber anderen Menschen. Damit kläre ich mein «Ich».
  • Ich suche mir fünf Menschen, die ich nicht mag und frage mich, was an ihnen ich nicht gut finde. Damit schlage ich den Bogen zu dem, was ich in mir selbst ablehne, was gebunden ist in meiner toxischen Scham. Über diese Teilaspekte kann ich meditieren, mich mit Fehlerkultur beschäftigen oder NLP mit gut geformten Ankern praktizieren.
  • Ich ändere mein Selbstbild. Dazu hole ich Einschätzungen aus meinem Umfeld ein, mit solchen Fragen: «Wie nimmst du mich wahr?» «Wie wirke ich auf dich?» «Was schätzt du an mir?» Mit diesen Bildern von aussen kann ich reflektieren und meine innere Stimme konfrontieren. Diese Stimme, die mich schlecht macht, die über mich herzieht und mich verurteilt. Danach kann ich mein neues Selbstbild bestätigen, so dass diese toxischen Seiten ihr Eigenleben aufgeben können.
  • Tagebuch führen: Ich dokumentiere meine Überreaktionen und übe Selbstreflexion.

Ich freue mich über deine Rückmeldung, wenn einer meiner Tipps für dich funktioniert hat. Oder nutze mein Wissen und meine Erfahrung für eine persönliche Begleitung aus der toxischen Scham. Ich unterstütze dich gerne in diesem Prozess.