Die moralische Instanz, die jeder von uns in sich hat, wird geprägt von gesellschaftlichen, kulturellen, ideologischen und spirituellen Dimensionen. Dieser innere Kompass warnt uns vor sozialen Konflikten. Mit seiner Hilfe bewerten wir nach gut und schlecht, richtig und falsch. Wir beurteilen uns selbst und unsere Mitmenschen.
Ein Schuldgefühl ist die bewusste oder unbewusste Überzeugung, etwas falsch gemacht zu haben. Es tritt häufig auf nach einer (vermeintlich) falschen Reaktion, einem unnötigen Fehler, einer vermeidbaren Tat oder einer Pflichtverletzung. Die Emotion wird normalerweise als negativ wahrgenommen. Durch die Ablehnung seines Verhaltens setzt sich der Verursacher selbst herab, redet sich schlecht oder wird wütend auf sich.
Woher kommt das schlechte Gewissen?
Verstösse gegen ein sittliches, moralisches oder religiöses Konzept sind gesellschaftlich unerwünschte Handlungen. Doch wer bestimmt, was man darf und was nicht? Was ist das übliche Verhalten in der Familie, in der Schule, am Arbeitsplatz, im Verein?
In der Praxis wird man mit seinem Fehlverhalten konfrontiert, sobald man eine geltende Norm nicht einhält. Wenn jemand etwas in den Augen der anderen falsch gemacht hat, wird er dies zu hören oder spüren bekommen. Eine solche Verurteilung kann Schuldgefühle beim Betroffenen auslösen.
Als Kinder lernen wir, was wir tun müssen, um von unseren Eltern akzeptiert und gleichwertig behandelt zu werden. Weil wir dazugehören möchten, ergründen wir bereits in jungen Jahren, welche Fehlreaktionen oder Pflichtverletzungen wir vermeiden müssen, damit wir nicht bestraft werden.
Schuldgefühle entstehen unabhängig von Strafandrohung. Sie sind wie ein Schlüsselaffekt in der Entwicklung persönlicher und sozialer Verantwortlichkeit. Sie können Ärger und Kummer auslösen oder zu Angst oder sogar Panik führen. Wenn unsere innere Instanz wahrnimmt, dass wir eine soziale Norm nicht eingehalten haben, verbinden sich die Schuldgefühle häufig mit einem schlechten Gewissen.
Wenn die ständige Beschäftigung mit dem Fehlverhalten zu Gedankenkreisen führt, können sich Schuldgefühle belastend auf unsere Beziehungen und unser Wohlbefinden auswirken. Die quälenden Selbstvorwürfe und nagende Reue kommen immer wieder, sie lassen uns nicht mehr los. Es besteht der Wunsch nach Wiedergutmachung.
Menschen mit Schuldgefühlen werden von inneren Unruhen getrieben. Dieser Stress kann bedrückende Gefühle verursachen, die zu Zweifeln an der eigenen Kompetenz und zu Selbstvorwürfen führen. Dies kann wiederum den Selbstwert beeinträchtigen.
So verankern sich Schuldgefühle im Innersten
Schuldgefühle entstehen in emotional belasteten Situationen und bei dramatischen Erfahrungen, wenn…
… es dir besser geht als einem andern.
… du zu wenig getan hast, um jemanden zu helfen.
… du den plötzlichen Todesfall eines nahestehenden Menschen verarbeiten musst.
… du einen Schaden oder Unfall verursacht hast.
… du als Kind vernachlässigst wurdest oder Gewalt ausgesetzt warst.
Schuldgefühle führen oft zu einem Monolog im Kopf. «Das darf mir nie mehr passieren.» «Wie kann ich das je wieder gutmachen?» «Was denken die Nachbarn von mir?» «Ich hätte das besser nicht getan.» «Wieso habe ich nicht besser aufgepasst?» «Ich muss mich noch mehr anstrengen, ich muss perfekt sein.»
Eine klassische Situation aus der Familie: Eltern übertragen einem ihrer Kinder die Verantwortung für ein jüngeres Geschwister. Werden die Erwartungen der Eltern nicht erfüllt, wird das Kind für seinen Fehler getadelt oder bestraft. Obwohl dieses Kind objektiv nicht verantwortlich ist für die Situation, fühlt es sich schuldig, denn in den Augen seiner Eltern hat es versagt. Es quält sich mit Selbstvorwürfen wie «Hätte ich besser aufgepasst, wäre das nicht passiert».
Im Zusammenhang mit psychischer, körperlicher oder sexueller Gewalt höre ich in meiner Praxis immer wieder Selbstbeschuldigungen wie diese: «Ich bin selbst schuld, dass ich geschlagen wurde.» «Wäre ich braver gewesen und hätte ich nicht rebelliert, dann wäre die Gewalt nicht passiert.» «Hätte ich mich nicht so widerspenstig aufgeführt, wäre er liebevoller mit mir umgegangen.»
Die unsichtbaren Normen – Wie weiss ich, was richtig ist?
Als soziale Wesen haben wir Menschen ein feines Gespür dafür, wie wir uns verhalten müssen, um von der Gemeinschaft akzeptiert zu werden. Wir empfinden ein tiefes Gefühl von Zughörigkeit für unsere Gruppe, Sippe oder Gemeinschaft. Unsere Wahrnehmung weiss, was wir tun müssen, um die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft nicht zu gefährden, die dort geltenden sozialen Normen nicht zu verletzen. Denn jeder weiss: Regelbrecher werden ausgeschlossen.
Wenn wir moralische oder ethische Vorstellungen missachten, riskieren wir mit unserem Verhalten den Ausschluss aus der Gruppe. Und zwar unabhängig davon, ob wir bewusst oder unbewusst gegen bestimmte Regeln verstossen. In der Familie kann ein nicht regelkonformes Verhalten ein Wegsperren oder Hausarrest für das Kind bedeuten. In der Schule schickt der Lehrer das Kind in die Ecke des Klassenzimmers oder vor die Türe. Solche Bestrafungen sollen dem «Sünder» Zeit geben, um über sein Vergehen nachzudenken und sich zu schämen.
Kürzlich sah ich an einem Familien-Konzert ein kleines Mädchen, das auf den Schultern seines Vaters sass. Seinem Verhalten nach zu schliessen war dieser Anlass sein erster Konzertbesuch. Für mich war spannend zu sehen, wie die Kleine mehrere Minuten lang aufmerksam die anderen Konzertbesucher studierte. Sie beobachtete, wie die Menschen um sie herum sich verhalten. Nach einigen Minuten begann sie zu klatschen, wie die anderen im Saal. Was ist da gelaufen? Das Mädchen hat eine Überprüfung vorgenommen, wie man sich an einem Konzert korrekt verhält, um sich in die Gruppe einzufügen. Für mich war es eindrücklich und faszinierend, dieses kleine Mädchen zu beobachten und zu erleben, wie sie ihre Zugehörigkeit nicht riskieren wollten.
Meine Tipps für den Umgang mit Schuldgefühlen
- Horche in dich hinein und frage dich: Wessen Stimme höre ich in diesem Schuldgefühl? Woher habe ich es mitgebracht in mein Erwachsenenleben? Von wem habe ich dieses Schuldgefühl erlernt?
- Wenn du dich über deine Schuldgefühle ärgerst: Begegne deinem Ärger freundlich und verständnisvoll.
- Bei einem Ereignis aus der Schulzeit oder Jugend kann es befreiend sein, mit den Eltern oder der damaligen Lehrperson über die Situation von damals zu sprechen. Darüber reden, wie ich die Umstände als Kind erlebt habe und was die Reaktion meines Gegenübers in mir ausgelöst hat. Oftmals tritt in solchen Gesprächen ein Missverständnis zu Tage. Diese Auflösung kann zur Klärung des Sachverhalts führen. Das Schuldgefühl von damals kann sich auflösen.
Für Situationen aus der frühen Kindheit, wenn du die Trigger nicht selbst erreichst, bin ich gerne für dich da. Gemeinsam können wir erforschen und herausfinden, erlösen und transformieren. Melde dich für ein Erstgespräch.