Wut – die tabuisierte Emotion

Wut ist gesellschaftlich nicht akzeptiert. Deshalb gilt diese Emotion bei vielen Menschen als unerwünschtes Gefühl, als etwas Schlechtes und Unkontrollierbares. In den letzten Monaten kommen auffällig oft Klienten mit dieser Sichtweise zu mir. Sie stören sich an ihrem Zorn und möchten dieses Körperempfinden in den Griff bekommen.

Bei meinen Gesprächen beobachte ich den unterschiedlichen Umgang mit dieser für den Klienten unangenehmen Emotion. Während die einen ihren Zorn einkapseln, trennen sich andere innerlich davon ab. Beides führt dazu, dass ein Auslösereiz wie z. B. ein Geräusch, eine Stimme oder ein Duft die Wut immer wieder ans Tageslicht befördert.

Wenn wir zornig sind, können wir uns nicht mehr klar ausdrücken, unser limbisches System ist überreizt. Sind wir unreflektiert im Umgang mit unseren Emotionen, werden wir immer wieder versuchen, unsere Wut zu unterdrücken. Dieses Verhalten kann sich negativ auf die psychische Gesundheit auswirken. 

Wut als Kraft

Die Autorin und Impulsgeberin Vivian Dittmar beschreibt in ihrem Buch «Gefühle und Emotionen»  die Wut als Kraft:

>> Durch Wut beziehen wir eine Position. In dem Moment wo ich etwas als falsch definiere, zücke ich mein Schwert der Klarheit und definiere was für mich in Ordnung ist und was nicht. Wut ist dann die Kraft, die es mir ermöglicht, für diese Position einzustehen und sie bei Bedarf auch zu verteidigen. Wut ist damit die Kraft der Klarheit. Ihr Feuer befähigt mich zu handeln. Durch sie gebiete ich jenen Einhalt, die meine Grenzen überschreiten, und durch sie stehe ich für meine Bedürfnisse ein. Durch Wutkraft wirke ich in der Welt und beeinflusse sie im Sinne von „richtig“ und „falsch“. >>

Welcher Wut-Typ bist du?

Drehst du in bestimmten Situationen im roten Bereich? Fühlst du dich ausser Kontrolle, stehst du neben dir? Verurteilst du dich für dein wütend werden? Oder äussert sich deine Wut durch mangelnde Antriebskraft und depressive Verstimmungen? Richtest du die Wut gegen dich durch destruktive, verurteilende Gedankengänge, Selbstverletzung, Kontrolle und mehr?  Es lohnt sich in jedem Fall, die Ursachen zu ergründen und einen künftigen Energieverschleiss zu vermeiden. 

Grenzüberschreitung

Bestimmt hast du schon eine solche Szene beobachtet: Eine Mutter mit Kleinkind an der Hand trifft auf der Strasse oder in einem Ladengeschäft eine Bekannte. Nun fordert die Mutter ihr Kind auf, der Bekannten «Grüezi» zu sagen und ihr die Hand zu reichen. Oder die Bekannte grüsst das Kind, streicht vielleicht mit ihrer Hand über seinen Kopf. Das Kind ist irritiert, es versteckt sich hinter den Beinen seiner Mutter. Ein klarer Fall von Schüchternheit, wird gemeinhin angenommen. Das Verstecken kann jedoch auch als Zeichen für eine Grenzüberschreitung gedeutet werden, als Schutz vor unerwünschter Nähe und Berührung.

Körperliche Signale von Babys werden häufig ignoriert oder falsch interpretiert. Schreien ist das wichtigste Ausdrucksmittel eines Kleinkinds. Ein Säugling schreit beispielsweise, weil er Hunger hat, er müde ist oder Schmerzen hat. Wenn diese Bedürfnisse wiederholt nicht befriedigt werden spricht man von emotionaler oder physischer Vernachlässigung, die zur Traumatisierung führen können.

Merke: Je kleiner der Körper, desto weniger kann sich das Menschlein wehren.

Stopp! Nein!

Wir Erwachsenen können uns verbal äussern und körperlich gegen unerwünschte Nähe wehren. Allerdings erlebe ich in meiner Praxis immer wieder, dass Betroffene eine Grenzüberschreitung nicht als Übergriff interpretieren. Diese Menschen haben sich mit ihrer vermeintlichen «Überempfindlichkeit» abgefunden. Manche Erwachsene haben nie gelernt, Grenzen zu setzen und den eigenen Raum zu verteidigen. Gedanken wie «selbst schuld sein» oder «es nicht besser verdient zu haben» konnten sich so über Jahrzehnte verfestigen. 

Merke: Wenn du Grenzüberschreitungen erlebst und sie nicht als solche erkennst, wirst du immer wieder damit konfrontiert werden. 

Wut darf sein 

Wut stellt Handlung zur Verfügung. Du bist deiner Wut so lange ausgeliefert, bis du ihren Auslöser erkannt und neutralisiert hast. Wenn ich einen Klienten auf den mörderischen Aspekt seiner Wut anspreche, erzeugt dieser Gedanke oftmals eine Entspannung. Das Wissen «Wut darf sein» beruhigt den Geist. Es hilft zu erkennen, dass Zorn eine Schutzreaktion auf eine Grenzüberschreitung ist. Die Wut hilft dem Körper zu metabolisieren (verstoffwechseln). Ein neues Gleichgewicht entsteht.

Nutze die Energie

Möchtest du einen anderen Umgang mit deiner Wutenergie haben? Dem Energieverschleiss durch Wegdrücken verabschieden? Ein erster Schritt ist die Anerkennung deines Zorns als Energie. Verurteile dich nicht, wenn du wütend wirst. Denn Energie ist eine neutrale Kraft, die auf verschiedene Arten genutzt werden kann. 

In einem Setting suchen wir nach den Ursachen für deine Wut und integrieren diesen Aspekt was gleichzeitig ein Loslassen ist.